Kurze Geschichte eines skurrilen Kampfes Ende 2021 in Buenos Aires Marginalisierung, Blut und Massenunterhaltung

Prosa

Martín ist Ende der 1980er Jahren in Bahía Blanca, südlich von Buenos Aires, auf die Welt gekommen.

Boxkampf in Montevideo, Uruguay.
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Boxkampf in Montevideo, Uruguay. Foto: Nicolás Celaya (CC-BY 2.0 cropped)

24. April 2023
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Er hat von seinem Vater – einem Bauarbeiter – vor allem eins geerbt: Die Leidenschaft fürs Boxen. Bis zu seinem 18. Lebensjahr kämpfte Martín als Amateur-Boxer. Mit 20 wird er verhaftet und wegen mehrfachen bewaffneten Raubüberfall zu einer 15-jährigen Haftstrafe verurteilt. Im Knast findet er wieder zu seiner alten Liebe und profitiert von einem Resozialisierungsprogramm, das ihm ermöglicht zu trainieren und zu kämpfen. Er merkt schnell, dass er im Gefängnis nicht nur räumlich sondern auch sozial und ökonomisch marginalisiert ist. Das Boxen bringt ihm mehr Geld ein als andere Gefängnisarbeiten und er trainiert hart, um sein sportliches Können zu verbessern. Von seinen ersten drei Profi-Kämpfen gewinnt er zwei, einer mündet in einem Unentschieden – das liegt schon über fünf Jahre zurück. Mittlerweile ist er 33 Jahre alt.

Tätowierungen zieren seinen Oberkörper, der Blick ist steif, die Hoffnung auf bessere Zeiten ungebrochen. Martín ist ein Aussenseiter voller Fehler und Widersprüche, er ist ein Anti-Held mit einem Werdegang voller sozialer Hürden und Problemen. Seine Leidenschaft schwebt wie ein Damoklesschwert über ihn, sie ist Segen und Fluch zugleich. Das Boxen ist seine einzige Einkommensquelle und beschert ihm ein flüchtiges Freiheitsgefühl, eine kurzlebiges schnuppern an einer Welt jenseits des Gefängnisses. Doch es setzt ihn zugleich unmittelbar in physische Gefahr. Um in diesem Konkurrenzkampf nicht unterzugehen, trainiert er so oft er kann und redet sich ein, dass Siegeswille und Disziplin nicht nur im Ring, sondern auch ausserhalb der Gefängnismauern, sein Leben verändern werden.

Wo die Kontrolle über jegliche Bereiche des Lebens den Proletarisierten gewalttätig entrissen wurde, bleibt immer noch die Gewissheit, Herr über den eigenen Körper zu sein, ihn zu optimieren und zu stählen. Wie schon für manche Proletarier:innen fungiert der Sport für Martín als Hoffnungsträger für den sozialen Aufstieg, sein Boxername zeugt davon: Martín «Der Wiedergeborene» Jara. Sein nächster Kampf wird ein ganz spezieller. Als Gegner wartet Julián, ein Polizist.

Julián «Der Diamant» Gómez

Julián ist ein Polizist aus Buenos Aires, er boxt seit seinem 13. Lebensjahr und hat heute mit 29 Jahren bereits 5 Profi-Kämpfe hinter sich. Im Jahr 2017 stand er zum letzten Mal im Boxring und musste eine herbe Niederlage einstecken. Viele dachten, dass sei das Ende seiner Karriere, seine Leidenschaft für den Boxsport war plötzlich erloschen. Seit dem ist er ausser Form und hat stark zugenommen, Ambitionen nochmals in den Ring zu steigen, hegte er bis vor einigen Monaten keine. Doch dann hat Marcos «Der Chinese» Maidana, eine ehemalige argentinische Boxgrösse mit guten Kontakten zu Politiker:innen und Fernsehsendern, eine Idee, die seine Leidenschaft für den Boxkampf wachrüttelt: Maidana möchte unter dem Motto «Im Leben verfeindet, im Ring vereint» einen Boxkampf organisieren und einen Polizisten gegen einen Häftling antreten lassen.

Julián war von Anfang an fasziniert von der Idee und davon überzeugt, dass er für diesen Kampf prädestiniert sei. Er fühlt sich euphorisch, engagiert einen persönlichen Trainer und nimmt in nur wenigen Monaten 20 Kilos ab. Was ihn begeistert, ist nicht, im Zentrum der Aufmerksamkeit zu stehen oder gar zu beweisen, dass es vielleicht doch noch was mit seiner Boxkarriere werden könnte – dafür ist es bereits zu spät. Vielmehr sieht er sich in einer Mission, die ihn selbst übersteigt. Er will nicht für sich selbst Kämpfen, oder gegen die ökonomische Peripherisierung wie Martín, nein. Julían kämpft für eine Idee. In ihm kristallisiert sich, zumindest für eine kurze Zeitspanne, der Kampf des Gesetzes gegen das Verbrechen. Er kämpft im Namen des Staates, überzeugt auf der moralisch richtigen Seiten zu stehen. Dass ihm die rote Ecke des Boxrings zugewiesen wird, akzeptiert er nicht, denn sein Blut sei nicht rot, sondern blau, wie die Uniform der Polizei.

Während Julián in den Wochen vor dem Kampf ein intensives Training absolviert, genügend Erholung hat und sich ausgiebig und gut ernähren kann, sieht die Vorbereitung von Martín ganz anders aus. Er verbringt mehrere Tage in Isolationshaft und hat nur 2 Wochen Zeit, um sich auf den Kampf vorzubereiten – schlecht ernährt und überfordert mit der hohen medialen Aufmerksamkeit. Denn Maidana hat sein Wort gehalten und einen TV-Sender für den Event gefunden. «Canal 9» hat sich bereit erklärt den Boxkampf zu übertragen. Im Hexenkessel Von über einem dutzend bewaffnete Polizist:inen begleitet, trifft Martín in Handschellen in die Sportarena. Draussen sind ebenfalls Ordnungskräfte positioniert – man weiss ja nie. Fast 1000 Menschen haben sich ein Ticket für den Kampf ergattert. «Man spürt förmlich die Spannung! Das ist ein römisches Kolosseum!» brüllt der Fernsehmoderator begeistert, bevor eine Polizeikapelle die argentinische Nationalhymne intoniert. Julián hat seine Hand aufs Herz gelegt und singt begeistert mit. Martín steht seinerseits praktisch die ganze Zeit still in seiner Ecke und hüpft gelegentlich rauf und runter. Die Nervosität steht ihm ins Gesicht geschrieben. Es ist ein Auswärtsspiel für Martín, ein Grossteil des Publikums sind Polizist:innen. Doch er bleibt konzentriert und fokussiert seinen Gegner.

Sobald die Glocke läutet, gehen die zwei Kämpfer direkt aufeinander los – kein Beschnuppern, kein Abtasten. Julián hat schnell ein Lächeln im Gesicht, denn Martín wirkt nicht gut vorbereitet – sowohl boxtechnisch als auch konditionell. Er kann kaum die Arme oben halten und begibt sich in den Nahkampf ohne Deckung; ein No-Go. Ein rechter Hacken bringt ihn schon nach 15 Sekunden zu Boden, er steht schnell wieder auf. Doch eine Minute vor Schluss der ersten Runde ist der Kampf endgültig aus. Mehrere harte Kombinationen treffen auf Martíns ungedecktes Gesicht und er wird KO geschlagen. Er versucht vergebens aufzustehen kann sich aber nicht auf den Beinen halten. Nachdem er erneut zu Boden fällt, bleibt er für einige Sekunden ohnmächtig liegen. Während das Ärzteteam hektisch auf ihn zu rennt, steht Julián über ihm und brüllt ihm Beleidigungen entgegen. Kurz danach schreit er in Richtung Kamera: «Es lebe die Polizei und die aufrichtigen Menschen!» Das Publikum und die Moderatoren sind ausser sich. Was für ein Kampf! Symbolik und Fetisch In einem Interview wenige Minuten nach dem Ende des Kampfes dankte Julián «Der Diamant» Gómez zuallererst dem Sicherheitsminister und dem Polizeichef von Buenos Aires. Auch der Minister für Justiz und Menschenrechte und die Direktorin für Kultur und Sport waren mit von der Partie: Der Boxevent wurde von staatlichen Institutionen mitfinanziert. Viele fragten sich unmittelbar nach dem Kampf, wie es so weit kommen konnte und weshalb niemand die ungleichen Vorbereitungszeiten und Trainingsressourcen kritisierte.

Weshalb zieht ein Kampf zwischen zwei mittelmässigen Boxer so viel Aufmerksamkeit auf sich, was für Publikumsbedürfnisse sind da im Spiel? Mit Erich Fromm liesse sich sagen, dass das gesellschaftlich Unbewusste nach Identifikationsobjekten sucht, um die eigene Ohnmacht und Hilflosigkeit zu kompensieren. Das dichotomische Denken der Gesellschaft des Spektakels, spiegelt sich in einem Event wie dieser Boxkampf wieder. Held und Anti-Held verschwimmen ineinander.

Je nach Person und ihrer gesellschaftlichen Stellung und ideologischen Ausrichtung, fungiert einer der beiden Kämpfer als Identifikationsobjekt, die Fetischisierung gesellschaftlicher Verhältnisse bleibt indes dieselbe. In dualistischer Manier wird die Hoffnung entweder auf den Underdog, auf den marginalisierten und ausgeschlossenen Kämpfer projiziert, er symbolisiert den Wunsch, den gesellschaftlichen Machtstrukturen trotz Adversität eins auszuwischen. Im Falle eines Sieges, wird aus dem Underdog ein Vorkämpfer des individuellen, männlichen und symbolischen Widerstands gegen die Gesellschaft oder er fungiert als Symbol der Selbstoptimierung und Disziplinierung: Mit einem starken Wille und Disziplin kann in dieser Gesellschaft jede:r alles erreichen. Julián, der Polizist, hingegen, symbolisiert die Bewunderung der Autorität, die freiwillige Knechtschaft, die sich stolz der Autorität fügt, sich aber zugleich wünscht selbst Macht zu haben und andere zu unterdrücken.

Zugleich symbolisiert Martín ganz einfach den Hass auf die Armen und Marginalisierten. Die Schläge die Martín kassierte waren für diejenigen Teile der Gesellschaft eine Genugtuung, die eine verdrängte Verachtung gegen diejenigen Menschen haben, die zu den Verlierern dieser Gesellschaft gehören. Soll der Abschaum doch eins auf die Fresse bekommen! Mehr Recht, Ordnung und Autorität – also mehr von all dem was Julián symbolisiert – sollen die aus den Fugen geratenen gesellschaftlichen Umständen wieder auf die richtige Bahn bringen und die Gesellschaft vom Abschaum «befreien». Eine Galerie der Grausamkeit Auch wenn die Organisator:innen des Boxevents auf zynische Art und Weise versuchten den Kampf als eine inspirierende Geschichte mit hollywoodeskem Charme zu verkaufen, in der Polizist und Verbrecher durch den «neutralen» Sport vereint worden seien, bekam ihre Version der Ereignisse keinen Rückenwind. Die Zivilrechtsvereinigung «Usina» hat mittlerweile Anklage wegen «Amtsmissbrauch und Veruntreuung öffentlicher Gelder» erhoben.

Alberto Sarlo hingegen, ein Trainer des argentinischen Boxverbands, hielt in einem offenen Brief fest, dass das kein Boxkampf, sondern ein Gemetzel gewesen sei, in dem der Tod eines Gefangenen bewusst in Kauf genommen wurde. Er scheute auch nicht vor Kritik gegen die staatlichen Funktionären und Institutionen zurück, die sich an diesem morbiden Event beteiligten und hielt fest, dass es um weit mehr als bloss um diesen abscheulichen Boxkampf geht. Der ganze Event spiegelt den gesellschaftlichen Umgang mit den Gefangenen wieder:

«Ich hoffe, dass sie (…) auch zur Kenntnis nehmen, dass sie laut dem 2020 erschienen Bericht der «Provinzkommission zur Erinnerung», alle zwei Tage den Tod eines Gefangenen zulassen. Ob mit oder ohne Fernsehkameras, ihr seid eine Schande (...) ihr seid für die 178 Todesfälle im vergangenen Jahr in den Folterzentren dieser Provinz verantwortlich. Ihr wisst NICHTS über die Gefangene und die Gefängnisse.»

M. Lautrèamont